Hallo und herzlich willkommen zu einer neuen Ausgabe unseres Blogs. Am 01. Juli 2023 ist es endlich soweit. Die neue bundesweite Personalbemessung (§ 113 c Absatz 5 SGB XI) tritt in Kraft und hat zum Ziel, die pflegerische Versorgung in der vollstationären Altenpflege sicherzustellen. Hintergrund ist der stetige Mangel an Fachkräften und die größer werdenden Aufgabenbereiche. Grundlage bildet hierfür eine Studie nach Prof. Heinz Rothgang. Die neue Personalbemessung nimmt sich zur Aufgabe, „[…] knappe Ressourcen […] möglichst wirtschaftlich […]“ einzusetzen. Die Bundesregierung verspricht mehr Personal, autonomeres Arbeiten, modernere Organisationsstrukturen und einen besseren Informationsfluss. Wird das neue Verfahren zu einer Erleichterung führen und wie soll es funktionieren? Wir klären in diesem Beitrag die wichtigsten Fragen.
Die Rothgang-Studie
Entwickelt wurde das Verfahren von Mitarbeitern um Professor Heinz Rothgang von der Universität Bremen. Dabei wurden Daten von über 1.300 Bewohnern aus 62 Pflegeeinrichtungen erfasst. Die Studien umfassten eine detaillierte Beobachtung jeglicher Pflegehandlungen, die anschließend dokumentiert und bewertet wurden.
Die Ergebnisse der Studie waren ernüchternd. Einrichtungen bräuchten im Durchschnitt 36 Prozent mehr Personal als zum heutigen Standpunkt. Umgerechnet wären dies über 100.000 Vollzeitkräfte. Insbesondere bei Pflegeassistenzkräften gibt es einen starken Mangel, es werden laut Studie 69 Prozent mehr solches Personal benötigt. Eine weitere wichtige Erkenntnis war der Mangel an qualifizierten Assistenzkräften mit Berufserfahrung.
Dies führte zur Ermittlung des Case-Mix, d.h. die Anzahl der Bewohner mit jedem Pflegegrad innerhalb einer Einrichtung. Darauf folgend zeigt der Care-Mix auf, wie viel Personal benötigt wird und unterscheidet zwischen vier Qualifikationsstufen: Fachkräften, Assistenzkräften mit zweijähriger Berufsausbildung, Assistenzkräfte mit einjähriger Berufsausbildung, angelernte Kräfte. Aus diesen Daten ergibt sich die Erstellung eines Algorithmus, nach dem die Bemessung entsteht, wie viele Pflegekräfte eine Einrichtung benötigen würde, damit diese fachgerecht pflegen können. Der Algorithmus verspricht, länderunabhängig gerechte Regelung zu finden.
Die vier Kernaspekte der Bundesregierung für die neue Personalbemessung
- Ein zentraler Aspekt für die Bundesregierung stellt eine Neugliederung der Organisationsstruktur dar. Demnach müsse mit alten Hierarchien gebrochen werden und klare Aufgaben- und Rollenprofile im Vordergrund stehen, gemeinsam mit einem verstärkten Teamgedanken. Folglich soll dies zu einer erhöhten Bereitschaft führen, in dem Pflegeberuf zu bleiben und die Arbeit attraktiver zu gestalten.
- Der wichtigste Punkt ist wahrscheinlich die Thematik um eine zusätzliche Einstellung von Personal. Die Regierung verspricht 20.000 zusätzliche Pflegehilfskräfte. Dafür können Einrichtungen angeben, wie viele zusätzliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter benötigt werden. Diese angemeldeten Stellen werden zudem von der Fachkraftquote (mindestens 50 Prozent des Personals einer stationären Einrichtung muss aus Pflegefachkräften bestehen) abgekoppelt.
- Drittes Thema bildet der erhöhte Informationsfluss. Hier wird geplant, Informationen kurz und prägnant über bestimmte Medien weiterzugeben. Hinzu wird gefördert, dass sich Pflegekräfte seriös informieren können, die darüber hinaus durch gezielte persönliche Gesprächsangebote bereichert werden.
- Schlussendlich wird die „Advanced Nursing Practice“ angesprochen. Bei Bedarf und nach Wunsch sollen Pflegefachkräfte autonomer arbeiten können und die medizinische Hoheit verringert werden.
Wie soll der Fachkräftemangel vermindert werden?
Die Bundesregierung plant, schrittweise eine sogenannte Personalausbaustufe einzuführen, nach der seit Beginn 2021 bereits 20.000 zusätzliche Stellen finanziert wurden. Dies soll ab dem 01. Juli 2023 ausgebaut werden und Möglichkeiten für weitere Ausbaustufen ab 2025 bieten. Die große Herausforderung bleibt allerdings darin, den immensen Bedarf an Assistenzkräften zu decken. Hierfür müssen Ausbildungen und Lehrer gleichermaßen gefördert werden, damit eine langfristige Milderung in Sicht ist.
Die Rothgang-Studie kommt in dem Zusammenhang zu dem Schluss, dass die bisherige 50/50-Quote (50% Fachkräfte/50% Hilfskräfte) ersetzt werden müsse. Als neue Richtlinie wäre die 40/30/30-Richtlinie (40% Fachkräfte/30% Assistenzkräfte mit Ausbildung/30% Hilfskräfte ohne entsprechende Ausbildung) geeigneter. Dies ist deshalb ein wichtiger Schritt, weil viele Einrichtungen gezwungen waren, Bewohner abzulehnen, weil die Quote von 50% durch den Mangel an qualifizierten Fachkräften nicht erfüllt worden konnte. Infolgedessen sorgt die Aufweichung dieser Regelung für einen geringeren Druck.
Der neue Algorithmus soll demnach in einem Modellverfahren getestet werden und danach angepasst werden. Bis zum 01. Juli 2023 verspricht die Regierung die Schaffung einer Finanzierungsoption für weitere Pflegehilfskraft- und Assistenzstellen sowie weiteren Pflegefachkraftstellen. Ein wesentlicher Punkt sei hierbei auch die Berücksichtigung landesspezifischer Besonderheiten, damit eine Harmonisierung der landesrechtlich geregelten Helfer- und Assistenzausbildungen in der Pflege ermöglicht wird. Ziel sei eine Angleichung der unterschiedlichen Personalausstattung in den Ländern im Sinne einer größeren Bedarfsgerechtigkeit.
Ist die Rothgang-Studie ein Schritt in die richtige Richtung?
Die neue Personalbemessung nach Prof. Rothgang verspricht, primäre Probleme in der Pflege anzugehen. Es ist positiv zu bewerten, dass demnach ein Plan erkennbar ist, der auf wissenschaftlichen Studien und Erkenntnissen basiert. Es bleibt dennoch abzuwarten, ob der immense Bedarf an Personal gedeckt werden kann oder zumindest vermindert werden kann. Schlussendlich muss die Pflege langfristig erhalten und gefördert werden und sowohl junge wie ältere Pflegekräfte berücksichtigt werden. Häufige Kriterien, die zu einem Ausstieg führen, müssen gezielt angegangen werden. In einem früheren Beitrag diskutierten wir über die Pflegereform 2021 und kritisierten insbesondere fehlende, umfängliche Schritte, den Pflegeberuf attraktiver zu gestalten (hier zum Nachlesen). Hierfür ist eine neue Personalbemessung ein guter Anfang und kann ein Türöffner für die Lösung weiterer Probleme sein.
Roadmap der Bundesregierung zur Einführung eines Personalbemessungsverfahrens: LINK