Hallo und Herzlich Willkommen zurück zu einer neuen Ausgabe unseres Blogs. Wie letzte Woche angekündigt, stellen wir euch diese Woche eine alternative Wohnform vor. Andre Deserno arbeitet im Pflegedienst Neffeltal in Nörvenich, ist dort Teil der Geschäftsführung und auch der Familie. Die Neffeltal Service GmbH bietet eine noch nicht sehr verbreitete Wohnform an, eine sogenannte „anbieterverantwortete Wohngemeinschaft“. Zwei dieser Wohngemeinschaften wurden bereits am 01.04.2021 in Merzenich eröffnet. Wir haben uns zu einem Gespräch getroffen, um über die Vorteile dieser Wohnform zu sprechen und wo es bei der Umsetzung ähnlicher Projekte in Deutschland hapert.
Herr Deserno, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Ihre Senioren-WG unterscheidet sich maßgeblich von anderen und bekannteren Pflegeformen. Wie lässt sich der Alltag in Ihrer Senioren-WG am besten beschreiben?
Da muss ich direkt zu Beginn den wichtigsten Punkt herausheben: Es gibt keinen vorgeschriebenen Alltag und deshalb lässt er sich auch nicht beschreiben! Die Bewohner in unserer WG dürfen und sollen vollkommen selbstbestimmt leben. Das fängt beim Zeitpunkt des Aufstehens an, geht über die Wahl des Essens bis hin zur Zeit der Bettruhe. Uns ist es wichtig, dass das selbstbestimmte Leben, soweit es möglich ist, unberührt bleibt. Dazu gehören dann eben auch die ganz normalen Tagesabläufe. Wir bieten den Bewohnern selbstverständlich Frühstück etc. zu bestimmten Zeiten an, die Wahrnehmung obliegt ihnen aber komplett selbst; und das ist auch gut so. Alle Aktivitäten, die wir anbieten, muss man als ein Angebot verstehen, das gerne angenommen werden kann oder auch nicht.
Wie sehr sind die Pflegekräfte in den Ablauf involviert?
Aus pflegerischer Sicht agieren wir wie eine normale ambulante Betreuung bei den Kunden Zuhause, d.h. die Menschen in der Wohngemeinschaft beauftragen uns mit der Pflege. Unser Pflegedienst fährt deshalb wie üblich mit mehreren Anfahrten am Tag die Pflegeeinrichtung an und versorgt die Bewohner pflegerisch je nach Bedarf.
Man kann also sagen, dass die Selbstbestimmung das Alleinstellungsmerkmal Ihrer Senioren-WG darstellt?
Genau!
Die Bewohner der Senioren-WG beim gemeinsamen Essen. Die Entscheidung darüber, wann und was zubereitet wird, entscheiden die Mieter selbst.
Warum ist es so wichtig, die Selbstbestimmung im Alter zu wahren? Wo ist der Unterschied zu dem klassischen Pflegeheim?
Das ist eine sehr wichtige Frage. Dabei kommt es immer auf den Menschen an, der seine Probleme im Alltag hat und merkt, dass er allein nicht mehr leben kann. Oftmals sind es auch die Angehörigen, die die Initiative ergreifen, weil beispielsweise die Eltern nicht mehr allein Zuhause leben können. Wenn die älteren Menschen nicht mehr allein leben können oder wollen, gibt es in Deutschland grundsätzlich nur die Möglichkeit, in ein Pflegeheim zu wechseln. Die Menschen, die jedoch von sich aus sagen, sie können nicht mehr Zuhause wohnen, gleichzeitig aber nicht auf ihre Selbstbestimmtheit verzichten wollen, kommen zu uns in die Wohngemeinschaft. Bei uns fängt das Selbstbestimmungsrecht wie bereits gesagt bei den Aufstehzeiten an. Die Bewohner machen sich aber auch selbst Gedanken über den Essensplan oder sogar Ausflüge. Sofern ein Bewohner körperlich und geistig dazu in der Lage ist, bei uns zu wohnen, hat er viele Rechte, gleichzeitig aber auch den Luxus, dass er die Hilfe bekommt, die er Zuhause nicht mehr schaffen kann. Der große Vorteil und Unterschied zu einem Pflegeheim ist der, dass man dort kein Mitbestimmungsrecht besitzt, aber i.d.R. dieselbe Pflege erhält wie bei uns. Vielen Menschen, die in das Pflegeheim kommen, wird zu früh ein großer Teil ihrer Selbstbestimmung genommen. Bei uns haben sie dagegen die Möglichkeit, diese, so lange es möglich ist, zu wahren.
„Die Menschen bei uns haben den großen Vorteil, dass sie zum einen in einer relativ kleinen Gruppe im Vergleich zu einem Pflegeheim leben und zum anderen das Mitbestimmungsrecht haben.“
– Andre Deserno, Geschäftsführer Neffeltal Service GmbH
Warum sind solche Konzepte in Deutschland noch nicht weiter verbreitet? Mangelt es schlicht an der Aufklärung?
Auch. Wohngemeinschaften und Betreutes Wohnen werden weniger gefördert und sind weniger präsent in der Bevölkerung. Es gibt viele Menschen, die noch nie von den vorhandenen Konzepten gehört haben und das Bild vom grauen Pflegeheim ist nach wie vor im Vordergrund. Wir versuchen, bestmögliche Aufklärungsarbeit zu leisten und über die Alternativen zu informieren, schließlich möchten auch wir neue Interessenten und Bewohner gewinnen. Es ist dazu auch eher der Fall, dass die Angehörigen diejenigen sind, die sich informieren und bei einer Besichtigung unserer Wohngemeinschaft begeistert sind. Die Schwierigkeit ist eher, die potenziellen Bewohner selbst zu überzeugen, dass es noch Alternativen zum Pflegeheim gibt. Da müsste es von Seiten der Regierung oder regionalen Institutionen wie Sozialberatern mehr Unterstützung und Aufklärung geben.
Wie sieht es aus Sicht der Anbieter und der damit verbundenen Förderung durch die Bundesregierung aus?
Aus Anbietersicht gibt es einen klaren Nachteil, der gegen eine Wohngemeinschaft spricht: Bei Pflegeheimen gibt es meist feste Sätze und die Bearbeitung geht deshalb zügig von Statten, ergo bekommt man als Betreiber relativ schnell sein Geld. Nach der Eröffnung eines Pflegeheims kann man also relativ schnell mit Einnahmen aus sozialer Hilfe rechnen, bei einer Wohngemeinschaft ist das selten der Fall. Das liegt ganz einfach daran, dass die Menschen, die bei uns wohnen möchten und Unterstützung vom Sozialamt brauchen, sehr lange darauf warten müssen, damit diese bewilligt wird, weil es keine einheitlichen Regelungen dafür gibt. Im Umkehrschluss warte ich dann wieder sehr lange darauf, dass ich das Geld von den Bewohnern erhalte.
Darüber hinaus gibt es je nach Kreis andere Regelungen. In Köln gibt es meines Wissens nach beispielsweise Pauschalbeträge für Wohngemeinschaften, bei uns in Düren nicht. Das wirtschaftliche Risiko ist daher bei einem Pflegeheim deutlich geringer als bei einer Wohngemeinschaft. Ich kann mir gut vorstellen, dass dieses Risiko ein Grund dafür ist, warum es in Deutschland nicht mehr Wohngemeinschaften gibt. Eine zentral gesteuerte Regelung wäre hier klar von Vorteil, die vorhandenen Gesetze gestalten dies aber als schwierig. Zwar gibt es darüber hinaus Förderungen der Pflegekassen für Wohngemeinschaften, doch nur für jene, die ohne Anbieter fungieren. Das trifft in unseren Fall aber nicht zu.

Zum Abschluss noch ein Blick in die Zukunft: Ist das klassische Pflegeheim ihrer Meinung nach überholt?
Zu allererst muss man sagen, dass Pflegeheime nicht pauschal schlecht geredet werden dürfen. Wir kennen selbst genug, die eine gute Pflege anbieten. Ebenso lernen die Pflegeheime mittlerweile auch dazu, in dem sie beispielsweise kleine Bewohnergruppen bilden statt pauschal hunderte Menschen als eine Gruppe zu beherbergen. In den meisten Fällen ist das Pflegeheim nicht mehr der graue Betonbunker, wie man ihn vielleicht vor Augen haben könnte. Genauso gibt es aber auch viele, bei denen wir sagen, dass wir das anders angehen würden.
Das Traurige meiner Meinung nach ist auch eher die Pauschalität. Ein Pflegeheim kann denselben Betrag über den Pflegegrad nehmen, unabhängig der benötigten Pflege. Das führt dann leider dazu, dass manche Pflegeheime eher Menschen mit einem hohen Pflegegrad aufnehmen, die gleichzeitig aber nur einen vergleichsweise geringen Pflegeaufwand benötigen. Das Pflegeheim könnte dann dennoch den vollen Betrag über den Pflegegrad berechnen lassen. Hinzu kommt dann noch ein pauschaler Beitrag von jedem Kunden. Diese Pauschalität empfinde ich als nicht richtig. Die Pflegeheime sind auch deshalb i.d.R. teurer. Wir schauen dagegen individuell, was dieser Mensch für eine Pflege möchte und was er braucht. Daraus ermitteln wir dann einen individuellen Preis und sind dadurch auch günstiger als jedes Pflegeheim – mindestens in Nordrhein-Westfalen – bei gleicher Leistung.
Vielen Dank für das nette Gespräch. Wir von nevisQ wünschen Ihnen weiterhin viel Erfolg für die Zukunft der Senioren-WG.
Wie wir sehen, gibt es bereits alternative Wohnformen, die
von den Bewohnern und Angehörigen mit großer Begeisterung aufgenommen werden. Die Selbstbestimmtheit ist und bleibt auch in der Zukunft ein großes Thema. Es besteht aber nach wie vor Nachholbedarf bei der Finanzierung und Aufklärung, damit mehr solcher Projekte realisiert werden können.
Wer sich die Senioren-WG von Andre Deserno einmal persönlich
anschauen will, der findet alle nötigen Informationen am Ende des Blogs. Nächste Woche schließen wir die Themenwoche der „Neuen Wohnformen“ mit einer eigenen Einschätzung darüber, wie die Pflegeheime oder alternative Wohnformen in Zukunft aussehen könnten.
Bis dahin alles Gute!
Hier geht es zur Homepage der Senioren-WG von Andre Deserno: